Comicfiguren, die zum Leben erwachen, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten als Fixstern einer Handvoll Schweizer Jugendlicher in den 20s und zwei Welten, deren Grenzen verschwimmen. Das und noch viel mehr bietet das erste Graphic Musical der Schweiz und das neueste Werk von Freetown Entertainment Baden, das vom 20. April bis zum 21. Mai 2023 im Kino Elite in Wettingen für strahlende Gesichter sorgt.
Manchmal kommt es vor, dass einem ein Musical oder eine Show besonders am Herzen liegt. Bei The Copyright Girl war das der Fall. Es war wohl vergangenen Dezember, als wir zum 1. Mal davon hörten. Die Rede war von einem „Bande Dessinée Musical“ oder „Graphic Musical“, einer Verschmelzung von Comic und Musical oder auch „… einer pionierhaften Kohaäsion von 2D- mit 3D-Welten…“
Wir waren auch direkt mit von der Partie, als via Crowd Founding bestimmte Bereiche finanziert wurden, wie z.B. mehr Marketing-Massnahmen. Auf diese Weise hatten wir von Anfang an das Gefühl, Teil dieser Inszenierung zu sein und freuten uns über jedes Plakat, das wir sahen und jede Social Media Kampage.
Wir konnten es auch kaum erwarten, einige bekannte Gesichter wieder zu sehen, die uns schon in anderen Schweizer Produktionen begeistert hatten. Zudem waren wir gespannt auf Benjamin Fröhlichs Regie-Arbeit.

Mit Eric Buche (Comic und Bühnenbild), François Ruedin (Buch, Musik und Lyrics), Markus Kirchhofer (Literarische Inputs) und eben Benjamin Fröhlich (Regie, Dramaturgie und Lyrics) bringt diese Produktion ein starkes Kreativteam mit viel Erfahrung mit. Hinter allem steckt Freetown Entertainment Baden, ein Verein, der die Förderung, Unterstützung und Durchführung von kulturellen Anlässen, insbesondere Musicals sowie ähnlicher kultureller Veranstaltungen, unterstützt.
Die Story
The Copyright Girl spielt in den 20er-Jahren. In einem verschlafenen Schweizer Bergdorf finden drei Jugendliche mit den Namen Pietro, Jerry und Hans ein Comicheft, das ihr Leben auf den Kopf stellt und verborgene Sehnsüchte nach einem erfüllten, aufregenden Leben an die Oberfläche holt. Die plakative Darstellung Amerikas in diesem Heft, wird zum Fixstern und der Plan, auszuwandern, nimmt Realität an, vor allem nachdem Pietro und Jerry beide einen magischen Ausflug in die Comicwelt machen durften. Doch dass die Grenzen zwischen der 2D- und 3D-Welt nicht ohne Folgen überschritten werden können, zeigt sich bald, denn auch die Comicfiguren haben Sehnsüchte, vor allem nach Tiefe, die in der 2D-Welt nicht existiert.
Musik und Texte
Die Musik ist „gmögig“ und abwechslungsreich, die Texte sind in Schweizerdeutsch und sehr kreativ. Lyrics sind für uns immer besonders wichtig. Holprige Texte und unelegante Reime sind uns nämlich ein Graus. Aber Entwarnung: The Copyright Girl ist ein Genuss. Was uns etwas irritierte war, dass von den 20ern doch recht wenig hör- oder spürbar war. Charleston, Jazz und Swing dominierten diese Zeit und davon war kaum etwas wahrzunehmen.
Dafür begeisterte uns die Liveband. Mit Liveband erhält jede Produktion automatisch mehr Authentizität. Ein grosser Pluspunkt der Show.
Bühnenbild, Kostüme und Effekte
Die Bühne wird beherrscht von drei grossen LED-Leinwänden, als Herzstück der Show. Wie sonst sollten die Comicfiguren mit den Darstellern auf der Bühne interagieren? Gleichzeitig dienen sie aber auch als Projektionsfläche für die Backgrounds der 3D-Welt. Spannenderweise hat man sich dabei auch für skizzenhafte Darstellungen entschieden. Dies verleit dem Musical einen einzigartigen Look (etwas Ähnliches haben wir noch nie gesehen), der sehr gut zum Comic-Thema des Stücks passt, aber unter Umständen zu Verwirrung führen kann, da so kaum wahrnehmbare Unterschiede zwischen 2D- und 3D-Welt gemacht werden.
Die Kostüme sind sehr einfach gehalten, passen aber gut zum Bergdorf und später auch zur Arbeiterklasse von NewYork. Lediglich bei den Comicfiguren hätte ich mir etwas mehr Originalität gewünscht. Eine Comicfigur, die in die 3D-Welt springt, sollte klar erkennbar sein. Copyright selbst wirkte z.B. zu wenig BOLD. Hier hatten wir mehr erwartet. Aber mit Erwartungen ist das ja immer so eine Sache.
Auch der Wechsel der Figuren von der 2D-Welt in die 3D-Welt und umgekehrt, ging relativ einfach von statten. Wie genau, möchten wir hier nicht verraten. Die einzige Show, in der wir etwas Vergleichbares und Aufwändigeres gesehen hatten, war SHEN YUN. Dennoch würden wir The Copyright Girl jederzeit vorziehen, aus verschiedesten Gründen.
Was uns sehr gefiel, war hingegen der Trauerzug durch den Publikumsraum. Solche Specials sorgen in Musicals für Publikumsnähe und Aufregung. Ein grossartiger Schachzug gleich zu Beginn.
Regie und Dramaturgie
Herausragende Darsteller, eine spannende Geschichte und mitreissende Musik sind das, was ein gutes Musical ausmacht… Oder etwa nicht? Selbstverständlich sind diese Elemente wichtig und können einen Ausschlag geben. Was das Stück aber zusammen hält und oft entscheidend dafür ist, ob es als Ganzes gefällt, ist die Regiearbeit. Und hier wurde ganze Arbeit geleistet. Das Musical wirkt wie aus einem Guss und es ist deutlich zu sehen und spüren, dass auf die zwischenmenschlichen Beziehungen sowie den Aufbau der Spannungsbögen viel Wert gelegt wurde. Benjamin Fröhlich ist ein echter Hauptgewinn für The Copyright Girl. Er hat sowohl den Blick fürs Detail, als auch fürs grosse Ganze.
Besonders wertvoll und spannend erscheinen uns auch die psychologischen Aspekte. Das Musical behandelt direkt oder indirekt Themen, die jeden beschäftigen oder zumindest mal beschäftigten. Es geht um den Ablösungsprozess Jugendlicher von ihrer Familie und die damit verbundene Probleme, wie unterschiedliche Vorstellungen oder Druck, der unterschwellig ausgeübt wird. Es kommen Fragen auf wie, in wieweit Kinder für das Glück ihrer Eltern verantwortlich sind und ob eigene Wünsche dafür geopfert werden müssen? Und wie wichtig sind Wurzeln? Während sie den 3D-Figuren als Belastung erscheinen, wünscht sich Copyright einen Background mit Familie. Die einen sehnen sich nach Gefühlstiefe, die anderen nach weniger Verantwortung und Abenteuer ohne Konsequenzen. Und wie erkennt man, wen man wirklich liebt? Eine jahrelang gepflegte Vernarrtheit hinter sich zu lassen, ist kein Kinderspiel, genau so wenig, wie die Entscheidung, sich gegen eine selbsterschaffene Figur zu stellen, seine Rüstung abzulegen oder sein Kind loszulassen. Aber mit all diesem Problemen müssen sich die Figuren in The Copyright Girl auseinander setzen. Oberflächlichkeit ist definitiv etwas anderes

Darsteller
Was bei The Copyright Girl deutlich zu erkennen ist, ist der Gap zwischen professionellen Darstellern und Laiendarstellern. Das muss nichts Schlechtes sein und eventuell verleiht es einer Produktion auch einen gewissen Charme und sorgt für neue Zuschauer, es fällt halt aber einfach auf.
Unsere Hauptmotivation, dieses Musical zu besuchen waren ohne Frage die Darsteller. Adrian Burri, Deliah Stuker und Lucca Kleimann hatten wir bereits in Space Dream und in einem Fall auch in Sister Äct gesehen. Und Künstler, die uns überzeugen, sehen wir gerne in unterschiedlichen Rollen. Aber konnten sie unsere hohen Erwartungen auch diesmal erfüllen? Lets see…

Adrian Burri als Pietro
Adrian Burri verkörpert in The Copyright Girl den jungen Pietro, der mit seinen innovativen Elektro-Ideen im kleinen Bergdorf auf Unverständnis und taube Ohren stösst und sich dann Hals über Kopf in eine weibliche Comicfigur aus der gefundenen Zeitschrift verliebt. Er will Copyright, wie er sie in seiner Unwissenheit nennt, nach einem Ausflug in die Comicwelt, in New York wieder finden und legt dabei eine erstaunliche Treue an den Tag. In New York trifft er auf Jo und hilft ihr mit seinen Elektro-Kenntnissen ihre Bar zu dem It-Treff zu machen. Dabei entwickeln sie Gefühle für einander.
Adrian Burri ist die perfekte Wahl für emotionale Rollen, wie die des Pietro, da er die Fähigkeit besitzt, Gefühle auf sehr lebendige Art und Weise darzustellem. Auf der Bühne durchlebt er starke Emotionen, die über die idealisierende Liebe zu Copyright weit hinausgehen. Mit seiner gefühlvollen Stimme und seinem ausdrucksstarken Spiel, hat er sein Publikum vom 1. Augenblick an im Griff und lässt es mitlieben und mitleiden. Besonders beeindruckte uns, seine Darstellung der aufkeimenden Gefühle für Jo sowie sein Ausbruch, als er sich vor die Entscheidung gestellt sieht, in New York seinen Traum zu leben, oder nach Hause zurück zu kehren. Gerade im Musical, wo Gefühle oft überzeichnet werden, berührt eine so realistische Darstellung sehr. Adrian Burri ist wirklich ein Musical-Gesamtpaket und für uns immer wieder Grund, Tickets für eine Show zu kaufen.

Deliah Stuker als Jo
Jo ist eine junge Frau, die es gewohnt ist, sich alleine durch zu boxen und ihr Ding durchzieht. Und ihr Ding ist eine Bar. Etwas rüde, etwas burschikos und sehr sarkastisch nimmt sie Pietro und seine Verliebtheit in die Comicfigur nicht ernst, ermöglicht es ihm aber, seinen beruflichen Traum zu verwirklichen. Gemeinsam erschaffen sie etwas Grosses und kommen sich dabei näher, was für jemanden wie Jo nicht ganz einfach ist. Gefühle zuzugeben macht verletzlich und angreifbar, was sie am eigenen Leib erfahren muss.
Deliah Stuker ist eine faszinierende Darstellerin, die sich mit viel persönlicher Ausstrahlung jede Rolle zu eigen macht. Ihre Jo ist stark und verletzlich zugleich und diesen inneren Kampf und die Entwicklung kann das Publikum live mitverfolgen. Als Zuschauer möchte man sie am liebsten gar nicht aus den Augen lassen, um ja keine der sich auf ihrem Gesicht widerspiegelnden Gefühlsregungen zu verpassen, was beim Duett mit Adrian Burri eine kleine Herausforderung ist, da von beiden Darstellern viel geboten wird. Auch Deliah Stukers nuancenreiche, top-ausgebildete Stimme zieht einen in den Bann und transportiert Emotionen sicher und direkt, während ihr Tanz pure Lebensfreude vermittelt. Deliah Stuker auf der Bühne zu sehen ist ein absolutes Feel-good-Erlebnis und wir freuen uns schon darauf, sie im Sommer an den Thunerseespielen zu bewundern.

Lucca Kleimann als Hans
Hans stammt ebenfalls aus dem kleinen Bergdorf und arbeitet nach dem Tod seines Vaters in der Metzgerei seiner Familie. Sein Herz gehört jedoch der süssen Seite der Lebensmittelindustrie. Allerdings fügt er sich, anders als seine beiden Freunde, zuerst seinem Schicksal. Er ist unsicher und zögerlich, darum bemüht, niemanden zu verletzen, weshalb er selbst zu kurz kommt. Auf der Überfahrt nach NewYork lernt er einen Chocolatier kennen, der ihm nicht nur in beruflicher Hinsicht die langersehnte Chance gibt, sondern auch ganz neue Gefühle in ihm weckt.
Nachdem uns Lucca Kleimann damals in Space Dream mit seinen grandiosen Stimme vom ersten Augenblick an begeistert hatte, fasziniert er in The Copyright Girl mit seinem realistischen Spiel. Er beweist viel Geschick in Sachen Timing und weiss, Spannungsmomente zu halten. Es lohnt sich, ihn zu beobachten, um keinen der kleinen, feinen Momente seines natürlichen Spiels zu verpassen. Auch wenn wir das Gefühl haben, dass er in diesem Stück nicht sein gesamtes gesangliches Können unter Beweis stellen kann, da die Partitur einfach nicht die Möglichkeit bietet, überzeugt er dennoch auf ganzer Linie. Das Duett von Hans und Dandoy (ein grosses Kompliment auch an Christian Gwerder für seine Darstellung und seine aussergewöhnliche Stimme) und die vorsichtige Annäherung der beiden ist etwas vom Zauberhaftesten, das wir je in einem Musical gesehen haben.
Ein Grossteil der Darsteller (und hier sprechen wir von Hauptcast UND Ensemble) begeisterte uns mit facettenreichem und vor allem auch sehr natürlichem Spiel. Einige wenige wurden ihrer Rolle nicht vollkommen gerecht oder konnten ihren Rollen nicht genug Leben einhauchen (eventuell war diese Zweidimmensionalität aber auch gewünscht). Dies ist aber unsere subjektive Wahrnehmung.
Was uns sehr begeisterte, war aber die Vielzahl an markanten Stimmen. Ganz besonders erwähnen möchten wir hier Lukas Schönenberger als Sugus, dessen Sing-und Sprechstimme eine wirklich aussergewöhnliche Sonorirät vorweisen. Eine tolle Wahl für die Rolle des Comiczeichners.

Nicht weniger beeindruckte uns Katharina Michel. Während sie den Grossteil des Musicals ihre Stimme der Comicfigur Trivia, einer Bandenchefin, wie sie im Buche…, ähm, Comic steht, leiht, fragt man sich ununterbrochen, wem diese absolut grossartige, markante Stimme gehört. Mit ihrer Dominanz führt sie ihre Gang an und sorgt auch dafür, dass Jerry (perfekt und sympatisch verantwortungslos verkörpert von Sina Keller) sich für die 2D-Welt entscheidet. Wenn Trivia dann endlich live in Erscheinung tritt, ist man überwältigt, mit wieviel Intensität sie diese plakative Figur verkörpert. Besonders eindrücklich ist hier der Moment, als sie entdeckt, dass in der 3D-Welt Handlungenn wirklich Konsequenzen haben. BRAVO!

Ebenfalls begeisterte uns Anastasia Gräni. Sowohl darstellerisch, als auch gesanglich besitzt sie eine grosse Präsenz und überzeugt mit ihrer rauchigen, ausdrucksvollen Stimme nachhaltig. Zudem verleiht sie jeder Rolle viel Charakter.
Eine besondere Ausstrahlung besitzt auch Frank Lehmann. Er ist einer jener Darsteller, die ohne grosse Mühe Eindruck hinterlassen.
Fazit
The Copyright Girl ist eine beeindruckend professionelle und innovative Produktion, die ihren ganzen Charme in der schönen Kulisse des Kino Elite in Wettingen zum Ausdruck bringen kann. Mit grossartigen Darstellern, gut ausgearbeiteten Figuren, einer originellen Story zwischen Fiktion und Wirklichkeit, tollen Songs und sehr viel Tiefgang ist dieses Musical ein echter Geheimtipp für Musical-Fans und solche die es werden wollen.
The Copyright Girl läuft noch bis zum 21. Mai. Wer es nicht verpassen möchte, klickt am besten schnell auf diesen Link: Tickets

























